
Wohnung schubst Bewohner - Wohnungs- und Raumkonzepte 2035
Ist von Trends und radikalen Innovationen die Rede, meint das meist viel “Next”. Es naht die nächste Gesellschaft, die nächste Technologie, “The Next Big Thing”. Womöglich ist das Durchschlagende aber gar nicht der Hype hinter jeder nächsten Straßenecke, sondern die Verschiebung der tektonischen Platte unter unseren freiheitlich-demokratischen “Räumen” insgesamt. Was sich hier verschiebt, sind vor allem Werte und Einstellungen, Haltungen und Urteile.
Werte und Interessen verändern sich
Vor 30 Jahren beispielsweise ging die Mehrheit der alten Bundesrepublik gegen die Volkszählung auf die Straße – heute langweilige Statistik. Vor 20 Jahren erregten sich die Gemüter über erste Videokameras auf öffentlichen Plätzen wie dem Brandenburger Tor, der Sicherheit wegen. Heute reden wir nicht mehr über Videokameras (Straßen und Land sind ausstaffiert damit), sondern über den ersten politisch legitimierten Großversuch am Berliner Südkreuz, durch Gesichtserkennung gesuchte Personen möglichst schnell identifizieren und ausfindig machen zu können. Vor 10 Jahren gab es viel Aufhebens über die kleinen Konsum-Schubser von Amazon & Co., die sich mit Hilfe von “Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…” sowie dem offiziell günstigsten Preis tief ins Kundengedächtnis eingruben. Heute justieren Pricing-Algorithmen mehrmals am Tag in Echtzeit die Preise nach – auf jeden Einzelnen abgestimmt. Und stetig piepende Push-Nachrichten aufs Handy gesendet zu bekommen ist eine allseits tolerierte Selbstverständlichkeit.
Verschiebung der Wahrnehmung des sozialen Miteinanders
Messungen jeder Art (“Tracking”), Sozio- und Biometrie sowie kleine Verhaltens-“Schubser” staatlicherseits, sogenannte Nudges, sind heute Normalität. Unsere Gesellschaften werden nach und nach verhaltensökonomisch durchformatiert: Politik und Gesellschaft setzen “Frames”, die unser Verhalten sachte und unbemerkt, aber effektiv beeinflussen. Dieser Trend zur Steuerung durch Behavioral Economics kommt aus den USA. Da die dort erprobte tiefenmanipulative Lenkung von Kollektiven so gut funktioniert, übernimmt Europa sie in rasendem Tempo: Keine westliche Regierung mehr ohne Nudging-Abteilung am Kanzler- bzw. Präsidentenamt.
Und die Architektur – wohnen, leben, arbeiten?
Folgen dem Trend – hier geht es aber nicht mehr um “Wohntrends” im klassischen Sinn, um Trendfarben, -formen und neue Nutzungen (solche modischen Oberflächenphänomene bearbeiten künftig Spezial-Agenturen und zunehmend Influencer sowie Lobbyisten). Nein, das Wohnumfeld selbst wird zum Trigger: Es fungiert als System kleiner, subtiler, strategisch feinjustierter Reize, die uns Bewohner zu bestimmten Handlungen verleiten. Etwa lieber die Treppe zu benutzen als den Aufzug, damit wir länger gesund bleiben (deshalb ist der einzige Aufzug im Mehrfamilien-Mietshaus enervierend langsam). Oder Strom zu sparen, denn die Nachbarn sparen mehr Energie als man selbst (deshalb hängt im Erdgeschoss die anonymisierte Stromrechnung der Haushalte für jeden sichtbar aus). Alles längst Realität, mit “Zukunftstrends” herkömmlicher Art hat das nichts zu tun.
Besteht ein sozialer Druck?
Ignorieren ist für jeden Einzelnen übrigens erlaubt – aber kann man das auf Dauer, wenn sozialer Druck systematisch und omnipräsent aufgebaut wird? In skandinavischen Ländern ist zu besichtigen, wie schnell und engmaschig öffentlicher Raum verhaltensökonomisch durchstrukturiert werden kann: angefangen von U-Bahn-Schächten, bei denen man – wenn man klassisch Treppe läuft statt die Rolltreppe benutzt – mit den Füßen Klavierspielen kann, über Mülleimer auf Wiesen und in Stadtparks, die kuriose Fallgeräusche von sich geben, wenn man sie ‘füttert’, bis hin zu Glasflaschen-Spielen, bei denen man Punkte gewinnen kann, wenn man Weiß- und Buntglas ökologisch korrekt entsorgt beziehungsweise trennt.
Was sich aus solchen gesellschaftspolitisch tiefgelegten Entwicklungen ergibt, wie sich Wohnungs- und Raumkonzepte verändern und was Experten für derartiges Raum-Nudging zu sagen haben, diskutieren wir am 18. August 2019 bei der Sommerakademie in Bochum – mit hoffentlich nicht nur neugierigen, sondern auch kritischen Fachleuten. Denn die meisten Menschen hierzulande wollen künftig nicht nur komfortabel, gut und nachhaltig, sondern auch prosozial, individualistisch und selbstbestimmt wohnen und leben. Und dafür brauchen sie Unternehmen, die unser europäisches Verständnis von Handlungsfreiheit und Autonomiespielräumen kennen, akzeptieren und die neuen Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung sozial adäquat einsetzen. Europäisch-digitalisierte Smart Homes funktionieren zwar weitgehend selbstgesteuert, aber derjenige, der hier schubst, ist immer noch der Bewohner, nicht die Wohnung.
Prof. Dr. Friederike Müller-Friemauth ist eine unserer Referentinnen bei der 15. Sommerakademie des EBZ und der GdW am 18. August 2019 in Bochum.
Wir freuen uns sehr darauf, diese Zukunftsthemen mit Ihr zu diskutieren und einen Blick in die mögliche Zukunft des Wohnens zu werfen. Wir sind gespannt!