Unternehmenserfolg 4.0

Lernen der Zukunft

Prof. Dr. Nele Graf ist Professorin an der Hochschule für angewandtes Management und Geschäftsführerin der Mentus GmbH. Im Interview erläutert sie den Einfluss der Digitalisierung auf die Arbeitswelt und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Unternehmen, Mitarbeiter und Personalentwicklung.

 

1. Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die Arbeitswelt?

Prof. Graf: Die Digitalisierung ist nur ein Megatrend von vielen. Es passiert aber derzeit so viel mehr in der Arbeitswelt. Die Technologisierung stellt uns vor die Frage, welche Tätigkeiten Maschinen an Stelle von Menschen übernehmen können. Auch die Globalisierung hat Einfluss auf die Arbeitswelt. Jedoch ist die Veränderungsgeschwindigkeit und Komplexität der Digitalisierung einmalig, nimmt sogar stetig zu und sie betrifft uns alle.

Die Schnelligkeit der Entwicklungen kann am Beispiel des Telefons gut verdeutlicht werden. Auf Drehscheibentelefone folgten Handys, die innerhalb kürzester Zeit durch Smartphones abgelöst wurden. Heute wird mit Chips, die unter der Haut oder am Ohr befestigt werden können, experimentiert. Ihre Funktionen gehen über die von Smartphones hinaus.  

An dieser Stelle sind wir beim Thema lebenslanges Lernen angekommen. Denn die Entwicklung wird weiter gehen und wir müssen uns ihr stellen - ob es uns passt oder nicht.

Eigentlich wissen wir alle, dass die Digitalisierung die Arbeitswelt, unsere Arbeitswelt, beeinflusst, jedoch können wir nicht sagen, wie sie es in fünf Jahren tun wird. Wer soll daher die Menschen wie auf ihre Aufgaben und das Arbeiten in fünf Jahren vorbereiten?

2. Welche Rolle nimmt Personalentwicklung dabei ein?

Prof. Graf: Kontinuierliches Lernen – nicht nur in Bezug auf Digitalisierung – nimmt an Bedeutung zu. Dabei wird das Lernen individueller und selbstorganisierter, z.B. mit eLearning, kollegialer Beratung etc. Personalentwicklung muss die Rahmenbedingungen für diese Weiterentwicklung schaffen. Dafür muss auch das Lernen am Arbeitsplatz mehr Akzeptanz finden sowie Budget und Zeit zur Verfügung gestellt werden.

Mich erreichen Berichte von Mitarbeitern, die während des Lernens am Arbeitsplatz zu hören bekommen: „Du kannst lernen. Na, da hast du es ja gut. Ich habe keine Zeit dafür.“ In Zeiten rasant voranschreitender Entwicklungen bedroht eine solche Einstellung den Unternehmenserfolg.

3. Was können Unternehmen tun, um dem Wandel Stand zu halten?

Prof. Graf: Die Unternehmen müssen weg vom „Gießkannen-Prinzip“ bei der Aus- und Weiterbildung. Jeder Mitarbeiter ist anders, wann er was braucht, was er braucht und wie er es braucht. Die Unternehmen sollten daher nachfrageorientiert vorgehen. Individualisierte Formate, die das Entwicklungsziel des Einzelnen berücksichtigen, sind die Zukunft. Dabei unterstützen die Trends eLearning und soziales Lernen diese Denke.

Ich möchte dies anhand eines Beispiels verdeutlichen: Continental bot seinen Mitarbeitern zwölf unterschiedliche Lernwege zum Erwerb neuen Wissens im Zusammenhang eines Projekts an. Sie konnten beispielsweise persönliche und individuelle Unterstützung von einem Lern-Buddy erhalten oder über Lernvideos gänzlich selbstständig lernen. Geschwindigkeit, Intensität, Lernweg, Lerndauer… etc. entscheidet jeder Mitarbeiter selbst.

Dabei sind die sogenannten agile Formate, wie „Working out loud“, BarCamps oder Mentorenprogramme, hochstrukturiert. Die Prozesse, die Regelmäßigkeit der Treffen und die Art der Begleitung sind vorgegeben, damit das eigentliche Lernen frei laufen kann. Diese Prozesse müssen durch die Personalentwicklung oder Bildungsanbieter begleitet werden.

4. Welche Rolle nehmen Mitarbeiter ein?

Prof. Graf: Die neue Verantwortung für das eigene Lernen muss erst einmal geübt werden. Hierbei spielt der Ausbau der eigenen Lernkompetenzen eine zentrale Rolle.

Der Mitarbeiter muss wissen, welche Inhalte er lernen will und soll. Er gestaltet den Lernprozess und muss mit Lernstörungen umgehen. Er muss sich selbst motivieren, geeignete Formate und Lernpartner finden etc. Insgesamt ist es deutlich anspruchsvoller als „einmal zu einem Seminar zu gehen“.

5. Welche Anforderungen kommen in diesem Zusammenhang auf Bildungsanbieter zu?

Prof. Graf: Die Didaktik steht heute im Vordergrund. Es geht nicht mehr darum, mehr Inhalte zu vermitteln als andere Bildungsanbieter.

Unserem tradierten Verständnis nach ist eine Lehrkraft eine Person, die über mehr Wissen verfügt als ihr Gegenüber. In Zeiten der Digitalisierung und dem „Ergooglen“ von Wissen ist dies schwierig. Es darf nicht mehr darum gehen, etwas besser zu können oder mehr zu wissen.

So nimmt der Lehrende eine neue Rolle ein. Womöglich verfügen die Schüler über tiefere digitale Kompetenzen, aber die Lehrkräfte können einschätzen, was beispielsweise der stetige Umgang mit Smartphones mit den „Digital Natives“ macht, welche Auswirkungen es auf das Sozialverhalten und das individuelle Stresslevel hat.

Lehrkräfte, Dozenten und Professoren sind mehr Begleiter von Lernprozessen. Das Miteinanderlernen – auch unternehmensübergreifend -  gewinnt an Bedeutung. Und das kann hervorragend von Bildungsanbietern initiiert und begleitet werden.

Zudem ist für den Arbeitgeber bei der Weiterentwicklung seiner Fachkraft der Input/Output (Seminartage, Kosten) nicht so relevant. Wichtiger ist das Outcome, d.h., dass die  Maßnahme etwas gebracht hat. Hauptsache ist, der Mitarbeiter kann das Neuerlernte dann im Unternehmensalltag gewinnbringend anwenden.

Das bedeutet, dass das Portfolio von Bildungsanbietern durch die Einführung agiler, bedarfsorientierter Programme größer werden muss. Bildungsinstitute sind in der Pflicht, effizientes Lernen zu gestalten. In Zeiten der Digitalisierung geht es darum, Lernprozesse zu begleiten und als Berater tätig zu sein. Ich prophezeie, dass in fünf bis zehn Jahren die klassischen Seminaranbieter aussterben werden und nur die Bildungsanbieter bestehen bleiben, die sich den neuen Anforderungen angepasst haben.